Lasst sie draußen spielen.
Lasst sie sich dreckig machen.
Lasst sie Abenteuer erleben.
Lasst sie ihre eigenen Schürfwunden und Kratzer sammeln.
Lasst sie Geschichtenerzähler werden.
Lasst sie mutig sein und selber Lösungen finden.
Lasst sie selber Spiele erfinden.
Lasst sie draußen spielen.
Und staunt darüber, was passiert.
Damit meine ich Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Das Folgende gilt für alle gleichermaßen.
Denn Erwachsene sind wie Kinder, nur ein wenig älter.
Im Frühling habe ich Erwachsene bei Outdoorseminaren geführt. Die letzten zwei Wochen habe ich Azubis (16-24 Jahre alt) bei Outdoorerfahrungen und Teamaufgaben begleitet. Jetzt diese Woche betreue ich eine Feriensportwoche mit 30 Kindern (6-13 Jahre alt) und die Erkenntnis "Lasst sie draußen spielen" bestätigt sich wieder und wieder und wieder.
In diesem Beitrag mag ich von meinen Erfahrungen erzählen.
Die Feriensportwoche, die ich im Moment betreue ist eine "Tenniswoche". Das heißt unsere Base ist bei einem Tennisheim. Da gibt es 4 Tennisplätze, ein paar Tische und Stühle und das wars. Wenn wir dort sind, nehme ich war, dass die Kinder unausgeglichen sind und nicht so richtig wissen was sie mit sich anfangen sollen. Dann wird sich schneller gegenseitig geärgert, gelangweilt, aufs Handy gestarrt oder rumgebrüllt. Es wird schlecht zugehört, wenn wir Trainer etwas sagen und es ist insgesamt ziemlich anstrengend.
Das ändert sich, wenn wir zusammen in den Wald gehen. Jeden Tag so ca. 2-3 Stunden. Es ist faszinierend! In der Nähe ist ein Waldspielplatz. Riesengroßes Gebiet, lichter Wald, Rindenmulch, Schleichpfade, eine Senke mit vielen Wegen, Rutschen und Verstecken.
Sobald wir da sind, ändert sich etwas bei den Kindern.
Sie werden konzentrierter, zufriedener und ruhiger. Sie hören leichter zu, wenn ich etwas erkläre und "sind" auch einfach mal. Ohne konstanten Input und Stimulation. Sie scheinen das richtig zu genießen. Einfach dem Wald beim Atmen zuzugucken. Teil zu sein.
Mit klar abgestecktem Gebiet und uns als Base wissend, können sie stundenlang umherziehen und die Gegend erkunden. Neue Wege erschließen, eigene Spiele erfinden oder einfach nur den Wald genießen. So zufrieden und ruhig hab ich sie selten erlebt.
Wir haben dann 4 Tage lang jeden Tag Räuber und Gendarm gespielt. Manchmal nur mit der halben Gruppe, manchmal mit der Ganzen. 9 Polizisten, 21 Räuber, 1 Gefängnis. Was für ein Fest sag ich euch!
Und die Kinder lieben es.
Die Kinder lieben es sich zu verstecken, sich zu fangen und anzuschleichen.
Sie lieben es mal ruhig sein zu müssen, die Anspannung zu spüren, wenn wer knapp am Versteck vorbeigeht und die Entspannung, wenn man nicht entdeckt wird.
Sie lieben die Spannung und Aufregung, wenn sie verfolgt werden, schnell weglaufen müssen, ihre ganze Kraft spüren.
Sie lieben es eigene Entscheidungen treffen zu dürfen, die etwas zählen.
Sie lieben es selbst das Risiko zu wählen, dass sie eingehen.
Sie lieben es das Leben ganz intensiv zu spüren.
Sie lieben es mal nicht aufpassen zu müssen sich nicht dreckig zu machen und nichts kaputt zu machen.
Sie lieben es ihre Räuberkollegen befreien zu können.
Sie lieben es zusammenzuarbeiten.
Sie lieben es sich durch dichteste Unterholz zu schlagen. Und auch der Lauffaulste unter ihnen rennt, springt, klettert und kriecht ohne Probleme 2 Stunden durch.
Und danach? Danach sind alle erfüllt und strahlend. Innerlich. Äußerlich meistens doch dreckig und verschmiert. Dann beginnt der zweite Teil. Dann kann erzählt werden. Und wie erzählt wird:
- Hast du gesehen, wie schnell ich war?
- Weißt du wie gut mein Versteck war?
- Boah weisst du noch, als die Jäger einmal so knapp waren?
- Woah, siehst du meine Kratzer hier? Die kommen von den Dornen...
- Einmal hab ichs fast geschafft alle zu befreien...
Ein Geschnatter sondergleichen. Die Kinder unterhalten sich stundenlang danach über die Geschehnisse bei diesen Spielen.
Warum ist das so kraftvoll für sie?
Eine unvollständige Liste:
- Sie dürfen verschiedene archaische Rollen einnehmen bei diesen Spielen. Rollen, die uns Menschen seit hunderttausenden von Jahren auszeichnen. Rollen, die ganz tief in uns drin verankert sind. Jäger und Gejagte. Diese Rollen zu spüren, auszuprobieren denke ich stößt etwas in uns an. Resoniert mit etwas Altem in uns. Diese Fähigkeiten haben früher Überleben oder Tod bedeutet und unser ganzes Leben ausgezeichnet. In der Zeit wo wir noch durch den echten Dschungel gestreift sind und nicht die Großstadtdschungel von heutzutage.
Durch das Leben und Erleben von diesen Rollen erfahren wir Flow und Bedeutung. Wir erleben Geschichten und das fühlt sich sehr sinnvoll an für uns. Ich kann meinen Platz in der Gruppe finden mit meinen ganz individuellen Fähigkeiten und meiner Persönlichkeit. Das ist kraftvoll.
- Sie lernen in Gruppen zu spielen und Spiele fair anzupassen. So dass es fair für Räuber und Polizisten gleichermaßen ist. Für Kleine und Große. Solche freien Spiele sind im ständigen Anpassungsprozess. Nach jeder Runde wird neu ausgehandelt. Was hat gut geklappt, was nicht? Was wollen wir ändern? Bei festen Spielen, wie Tennis, Fußball etc. ist das nicht so leicht und vor allem nicht so üblich. Da fallen die "schlechten" schnell mal weg und vor allem verlieren sie die Motivation. Spielen macht am meisten Spaß, wenn es herausfordernd für alle ist. Das Lernen Kinder hierbei. Bessere Spieler zu werden. Das ist kraftvoll.
- Sie dürfen sich dreckig machen und sich endlich mal in einer Welt bewegen, in der sie nichts kaputt machen können. Wir muten Kindern viel zu mit unseren immer sauberen Wohnungen, teuren Dingen, die herumstehen und weißen Sofas oder Sneakern, die nicht dreckig werden dürfen. Mit unseren Iphones und MacBooks die ja nicht nass werden dürfen oder dreckig werden. Wo bleibt da das Toben? Das Wild sein? Das Rumfetzen? Im Wald können sie nichts kaputt machen. Und sich selbst? Was machen schon ein paar Kratzer und Schürfwunden und ne dreckige Hose? Wozu gibt es Waschmaschinen? Und die Kratzer sind meist eher stolze Zeichen einer gelungenen Verfolgungsjagd, die stolz jedem der sie sehen will (oder auch nicht) präsentiert werden. Sie merken sie halten etwas aus, sind nicht zerbrechlich sondern ziemlich stabil. Das ist kraftvoll.
- Sie erfahren sich selbst sehr intensiv. Ihren eigenen Körper, ihre Emotionen und ihre Fähigkeiten. Wie fühlt es sich an wenn das Herz bis zum Hals schlägt. Wenn mein Mund trocken wird, wenn ich weglaufe. Wie reagiere ich, wenn ich jemanden sehe? Das ist ganz viel Kennenlernen von sich selbst in Extremsituationen. In einem spielerischen sicheren Rahmen. Die Kindern lernen dabei, dass sie sich selbst viel zumuten können. Und oft wissen sie erst hinterher, wieviel sie wirklich können. Ich denke viele Kinder sind heutzutage physisch nicht gefordert. Sie können das Potential, dass sie in sich tragen nicht zum Ausdruck bringen. Sie müssen still sitzen und "brav" sein. In der Schule und mit den Erwachsenen. Also bleibt es in ihnen drin und sie werden unruhig, hippelig und unausgeglichen. Das ist festgesetzte Energie, die in Bewegung kommen will. Wer kennt sie nicht, die tippenden Hände und Füße?
Beim Spielen können sie über sich herauswachsen. Grenzen sprengen und verschieben. An dieser Stelle ein paar Geschichten von dem Räuber und Gendarm Spielen mit einer Gruppe Azubis. Von drei Aktionen war ich besonders beeindruckt. Ein Azubi, nennen wir ihn mal Tom, war eher "unfit". Übergewichtig, schnell fertig beim wandern, unmotiviert, Gelenkschmerzen... Als wir dann gespielt haben hat er einmal alle Räuber aus dem Gefängnis befreit und sich selbst mit einer Wahnsinns-Hechtrolle in Sicherheit gebracht. Auf Kopfsteinpflaster!!! Davon waren wir alle beeindruckt. Seine Rolle in der Gruppe war danach eine andere und sein Selbstbild denk ich auch. Die Situation hat das von ihm erfordert, also hat er geliefert. Von sich aus hätte er das nicht gemacht. Ein anderes Mal wurde einer der Azubis verfolgt, befindet sich in einer Sackgasse, und slidet einfach mal ein 3 Meter schräges Dach herunter um zu entkommen. James Bond Style. Ein weiterer springt diese Distanz runter und rollt sich einwandfrei ab. Wieder wer anderes versteckt sich auf einem Baum. Ein geniales Versteck.
Das sind alles Azubis, über die viele sagen "ah die hängen doch eh nur viel am Handy blablabla". Ich denke wir trauen ihnen zu wenig zu. Die können viel mehr als wir (und vielleicht auch sie) denken. Es muss bloß ein wenig rausgekitzelt werden.
- Sie dürfen mutig sein. Selbst entscheiden wann sie eher riskant spielen wollen und wann sich mehr verstecken. Sie können das selbst regulieren und sich selbstwirksam erfahren. Eigene Entscheidungen treffend.
- Sie haben einen Haufen Spaß und erleben sich, die anderen und die Welt ganz intensiv.
- Sie können danach heimkommen und von ihren Abenteuern erzählen. Zu Geschichtenerzählern werden.
Eine weitere Theorie von mir ist, dass die Welt von den Erwachsenen mit all ihren Straßen, rechten Winkeln, Autos, Beton und Asphalt gleichzeitig zu überladen und doch zu reizarm ist für Kinder.
Zu Überladen an Lärm und zu unterladen an Aufforderungen zum Spielen und zum Sein.
Wir sind nicht gemacht für Betonwüsten und Autolärm. Wir sind gemacht für Wälder und Vogelgezwitscher. Klar kann man auch in einer Betonwüste spielen. Doch mehr Spaß machen tuts dann doch im Wald.
Lasst sie draußen spielen.
Dieses Apell richtet sich an Menschen allen Alters. Ja genau. Auch an dich, der/die das gerade liest. Egal ob 6, 18, 32 oder 67 Jahre. Das Gleiche gilt für uns alle.
Denn Erwachsene sind keine andere Spezies als Kinder.
Sie sind ziemlich gleich (in ihren Bedürfnissen), bloß ein wenig älter.
Lasst sie draußen spielen.
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